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Carolin Lerchenmüller

«Gendermedizin ist nicht nur eine Frage der Chancengerechtigkeit, sondern eine Notwendigkeit»

Edition No. 143
Feb. 2025
Medizin, Gesundheit und Geschlecht

Gendermedizin betrifft alle Geschlechter. Im Interview erklärt Carolin Lerchenmüller, die erste Professorin für Gendermedizin in der Schweiz, warum sie notwendig ist, was die Zusammensetzung des Führungspersonals damit zu tun hat und warum in der Schweiz eine Art Aufbruchstimmung herrscht.

Carolin Lerchenmüller, warum hat die Universität Zürich seit 2024 einen Lehrstuhl für Gendermedizin?

Es hat in der Medizin relativ lange gedauert, bis man die Wichtigkeit sozialer und biologischer Unterschiede anerkannt hat. Damit solche Unterschiede in allen Medizinbereichen gezielt berücksichtigt werden, braucht es eine akademische Institutionalisierung. Ich vergleiche es gerne mit der Pharmakologie: Diese Disziplin ist auch in jeder Spezialisierung zu finden – in der Kardiologie beispielsweise, der Chirurgie oder der Anästhesie. Und trotzdem braucht es eigene Lehrstühle für die Pharmakologie, die lehren und forschen und ihre Erkenntnisse dann in die weiteren Bereiche einbringen.

Was genau ist mit biologischen und sozialen Unterschieden gemeint?

Mit biologischen Unterschieden sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede wie die Sexualhormone, Gene, Gonaden und Genitalien gemeint. Soziokulturelle Unterschiede sind ein Konstrukt – zu welchem Geschlecht sich eine Person zugehörig fühlt, wie andere Personen sie sehen, welche Vorlieben sie hat, wie viel Sport sie treibt, ob sie raucht, usw. Das alles hat auch Einfluss auf die Gesundheit, respektive darauf wie Krankheitssymptome empfunden werden oder wie eine Therapie akzeptiert wird. 

Haben Sie ein konkretes Beispiel dafür?

Die Corona-Pandemie zeigt gut auf, warum beide Dimensionen wichtig sind: Frauen waren häufiger infiziert, aber Männer sind oft stärker daran erkrankt und häufiger aufgrund von Covid verstorben. Letzteres liegt an biologischen Unterschieden des Immunsystems zwischen Mann und Frau. Warum sich Frauen häufiger infiziert haben, lässt sich mit soziokulturellen Unterschieden erklären: Frauen waren dem Virus stärker ausgesetzt, weil sie häufiger in Pflegeberufen, an Schulen und in Kindergärten arbeiten. 

Können Sie uns noch andere Beispiele erläutern?

Die Osteoporose – sie wird bei Männern häufig spät diagnostiziert und damit auch zu spät behandelt, weil die Normwerte der Knochendichte auf Frauen abgestimmt sind. Das Skelett der Männer ist anders aufgebaut. Das Beispiel Osteoporose zeigt, dass Gendermedizin nicht gleich Frauenmedizin bedeutet. Bei Frauen haben wir zwar viel grössere Datenlücken, aber Gendermedizin bezieht sich eben auf alle Geschlechter. 

Auch Depression illustriert dies gut. Wir kennen Antriebslosigkeit, soziale Isolation und Traurigkeit als vermeintlich typische Symptome einer Depression. Es sind aber eigentlich die typischen Symptome von Frauen, die an Depressionen erkrankt sind. Männer mit einer Depression sind tendenziell eher reizbar, zeigen sich aggressiv oder neigen zu Suchtverhalten. Bei einem solchen Verhalten denken wir nicht zuerst an eine Depression.

Also schaut man in der Gendermedizin je nach Geschlecht anders auf die Symptome?

Uns interessieren in der Gendermedizin nicht nur unterschiedliche Symptome, sondern auch alle Risiko- und Schutzfaktoren. Zum Beispiel haben Frauen, die in der Schwangerschaft an Bluthochdruck oder Zuckerkrankheit litten, später ein höheres Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung. Hingegen kann sich Ausdauersport positiv auf das Herz auswirken – wobei Frauen im Vergleich zu Männern weniger intensiv Sport treiben müssen, um eine schützende Wirkung zu erzielen. Solche biologischen und sozialen Einflüsse sollten in der Sprechstunde abgefragt werden.

Das heisst, geschlechterspezifische Unterschiede müssten auch in der Prävention berücksichtigt werden?

Ja, unbedingt. Das zeigt auch das Beispiel der Chemotherapie bei Brustkrebs – sie schädigt das Herz. Viele Frauen, die Brustkrebs überlebt haben, leiden später an Herzschwäche. Solche speziellen geschlechterunterschiedlichen Risikosituationen gibt es ganz viele. Diese müssen wir präventiv angehen. Dazu braucht es aber noch viel Grundlagenforschung, um die Mechanismen hinter den Risiko- und Schutzfaktoren besser zu verstehen.

Frauen sind in der medizinischen Forschung und in Führungspositionen nach wie vor unterrepräsentiert. Ist das ein Grund dafür, dass geschlechterspezifischen Unterschieden zu wenig Beachtung geschenkt wird?

Das ist nicht nur ein Gefühl, es lässt sich auch wissenschaftlich belegen: Das vorwiegend männliche Führungspersonal, das wir in vielen Kliniken und in der Forschung haben, beeinflusst, an welchen medizinischen Fragestellungen geforscht wird. Man konnte sehr gut nachweisen, dass divers zusammengesetzte Teams auch an diverseren Themen forschen. Ganz konkret: Je mehr Frauen im Team sind, desto mehr werden auch Themen erforscht oder Innovationen gefördert, die Frauen betreffen. Auch bei klinischen Studien konnte man dies nachweisen: Sind mehr Frauen im Studienleitungsteam, werden auch mehr Frauen als Studienteilnehmerinnen rekrutiert. Es geht in der Gendermedizin also um Diversität insgesamt. Am Ende wollen wir alle eine gute Versorgung erhalten.

Die «Leaky Pipeline» der Medizin

Mit einem Frauenanteil von 60 Prozent studieren zwar mehr Frauen als Männer Medizin, dieser Anteil sinkt aber mit zunehmender Verantwortung: So sind Frauen bei den Oberärztinnen und -ärzten nur noch zu 51 Prozent vertreten, bei den leitenden Ärztinnen und Ärzten zu 33 Prozent und bei Chefärztinnen und -ärzten noch zu 18 Prozent.

Was braucht es Ihrer Meinung nach konkret, um die Geschlechtervielfalt in Führungspositionen zu fördern?

Vor allem viel Aufklärung. Und wir müssen das Thema wissenschaftlich betrachten und die Emotionalität rausnehmen. Wir haben ja die Daten, die für divers zusammengesetzte Teams sprechen. Es ist auch nicht so, dass Frauen solche Positionen nicht wollen und sich selbst herausselektieren. Es sind soziokulturelle Stereotypen, denen wir unterliegen.

Helfen würden spezifische Trainings, welche die Voreingenommenheit reduzieren, Diskriminierung vorbeugen und sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz verhindern. Es braucht aber auch ganz konkret flexiblere Arbeitsmodelle. Wir können es uns in der Schweiz nicht erlauben, dass wir die Frauen auf dem Weg nach oben verlieren. Wir haben nach wie vor einen Fachkräftemangel. Es ist also nicht nur eine Frage der Chancengerechtigkeit, sondern auch eine Notwenigkeit. 

Wo steht denn die Gendermedizin in der Schweiz im internationalen Vergleich?

Bei der Anzahl Publikationen zum Thema kann die Schweiz mit Deutschland und anderen europäischen Ländern mithalten. Die USA ist uns aber etwas voraus. Dort wurden Geschlechterunterschiede schon früher wissenschaftlich aufgegriffen. Mir persönlich scheint aber, dass heute ein verschärftes Bewusstsein in der Schweiz spürbar ist – eine Art Aufbruchstimmung. Unser Lehrstuhl ist zum Beispiel ein wichtiger Schritt – und hoffentlich ein Vorbild für andere medizinische Fakultäten. Aber auch das NFP83, das Nationale Forschungsprogramm zur Gendermedizin und -gesundheit, ist ein wichtiges Zeichen. Das zeigt, dass der Bundesrat in dieses Thema investieren möchte. Und mit der Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Geschlecht und Gesundheit (Swiss Society for Gender Health) ist das grosse Bestreben spürbar, sich in der Schweiz zu vernetzen und das Thema gemeinsam voranzutreiben. Damit bringen wir uns vielleicht auf die Überholspur.

Carolin Lerchenmüller

Prof. Dr. med. Carolin Lerchenmüller ist seit 2024 erste Professorin für Gendermedizin am neuen Lehrstuhl der Universität Zürich und arbeitet als Kardiologin am Universitätsspital Zürich. Als niederschwelligen Zugang bietet sie eine Sprechstunde für Gendermedizin in der Kardiologie an.  Sie promovierte 2012 an der Universität Heidelberg und führte Forschungsarbeiten am Thomas Jefferson Medical College, Philadelphia und am Massachusetts General Hospital/Harvard Medical School, USA, durch. 

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